Weder Fisch noch Fleisch –

wie Konvertitinnen in Deutschland zwischen religiöser und
kultureller Heimat entheimatet werden!


Menschen werden mit Grundbedürfnissen geboren. Neben den physiologischen Bedürfnissen, wie Nahrungsaufnahme und Schlaf, gehören Autonomie, Wirksamkeit und soziale Zugehörigkeit zu den psychologischen Grundbedürfnissen. Bereits nach der Geburt sucht der Mensch nach Bindung. Wir möchten Teil eines großen Ganzen sein und eine tiefe Verbindung eingehen. In den meisten Fällen werden diese Grundbedürfnisse im Laufe des Lebens durch die Familien und einer zusätzlichen Peergroup gestillt. Jedoch wählen Menschen aus verschiedenen Gründen manchmal andere Lebenskonzepte als die der Ursprungsfamilie. So kommt es auch vor, dass nicht-islamisch geprägte Frauen und Männer den Islam als Ihre neue religiöse Heimat wählen. Meistens ändert sich dann auch die Peergroup. Schließlich geht man hier in den Austausch mit Gleichgesinnten und wenn ein Mensch nun ein stärkeres Bedürfnis nach Austausch zu Religiosität entwickelt, bedarf es zu mindestens einer Erweiterung der Peergroup(s).


Angesichts der medialen und sozial-politischen Debatten um den Islam, den Westen und die muslimische Frau ist für viele Menschen diese für sie „fremde Religion“ mit der deutschen Kultur nicht zu vereinbaren.  Die Forschung spricht hierbei vom Neo-Rassismus beziehungsweise Kulturrassismus. Antimuslimischer Rassismus wird dem Kulturrassismus zugordnet. Dieser rassifiziert die Kultur der Muslim:innen und  beschreibt die islamische Kultur als eine Monokultur, die keinen Raum für Vielfalt lässt. Ganz abgesehen davon, dass noch immer diskutiert wird, ob der Islam auch zu Deutschland gehöre. Infolgedessen passen für viele Menschen der Islam und die deutsche Kultur nicht zusammen.

Dies stellt insbesondere Konvertitinnen in Deutschland vor besondere Herausforderungen. Sie wissen, wie es sich anfühlt Teil der Gesellschaft zu sein und „dazuzugehören“. Werden Konvertitinnen als einfache deutsche Bürgerinnen wahrgenommen und nicht als Musliminnen, so wird auch nicht in Frage gestellt, ob sie zu Deutschland gehören- sie tun es einfach. Dies zeigt sich bereits im Alltag. Man wird freundlich bedient und gute Deutschkenntnisse werden unkommentiert vorausgesetzt. Einschneidende biographische Erlebnisse, die zur Konvertierung beigetragen haben könnten, bleiben weiterhin Teil der Privatsphäre und sind halt nur einschneidende biographische Erlebnisse- ganz unabhängig von der Religiosität als mögliche Folge dessen. Wenn die religiöse Heimat offensichtlich wird, wie zum Beispiel durch das Tragen des Hijabs oder eines religiösen „Outings“, werden sie von nun an im Kontext der Integrationspolitik diskutiert. Auch gebürtige Musliminnen, die sich kulturell in Deutschland beheimatet fühlen, leiden darunter. Sie können ihre religiöse sowie kulturelle Heimat nicht gemeinsam an einem Ort verorten. Gleichwohl sind Kultur und Religion eng miteinander verknüpft.

All diese Debatten werden häufig auf den Rücken der Frauen ausgetragen. Sie treffen auf viel  Unverständnis, wenn sie sich für den Islam als ihre frei gewählte Religion entscheiden. Wie kann es sein, dass eine Frau, die in einem vermeintlich säkulären Land, welches Frauen alle Möglichkeiten und Freiheiten bietet solch eine frauenfeindliche Religion annimmt, heißt es oftmals. Was scheint wohl bei ihr schief gelaufen zu sein? Nicht selten hört man Verrat an den westlichen Werten heraus, die ja per se nicht mit den islamischen Werten übereinstimmen können. Schließlich repräsentiert der Islam ein anderes Frauenbild als der Westen und die Gewaltbereitschaft der Muslime sei per se viel größer als die der westlichen Bürgerinnen.

Nicht selten sind es feministische Frauen, die muslimische Frauen anfeinden und andersrum. Islam und Feminismus sind halt immer noch für viele Menschen sich gegenseitig ausschließende Phänomene. Warum ist das so? Viele Muslim:innen können mit dem Begriff Feminismus wenig anfangen, sie verneinen ihn sogar und sehen im Feminismus einen Kampf der Geschlechter, welcher abgelehnt wird. Gleichwohl stehen sie für Themen, wie Gleichwertigkeit und Frauenrechte ein. Wie kann das sein? Wenn man sich den Begriff Feminismus anschaut, dann wird schnell sichtbar, dass dieser Begriff im Singular steht. So wie wir heutzutage fälschlicherweise und leider viel zu oft von der einen islamischen Frau sprechen, so wird immer noch von dem einen Feminismus gesprochen und damit ausschließlich der weiße, westlich-säkuläre Feminismus gemeint. Dieser hat viel zu lange die Distanzierung von Religion und Religiosität abverlangt, um sich als Teil einer frauenrechtlichen Bewegung zu fühlen. Dies ist für muslimische Frauen, die ihre Religiosität ausleben möchten, keine Option. Schließlich ist für viele Frauen der Islam mit seinen weiblichen Rolemodels die Kraftquelle für ihr weibliches Engagement hin zu mehr Selbstbestimmung. Genauso wenig, wie die Muslima in ihrer Individualität wahrgenommen wird, wird der Feminismus in seiner Vielfalt wahrgenommen. Dabei hat stets jede Kultur ihre eigene Frauenbewegung hervorgebracht, so auch das Christentum, das Judentum und der Islam. Wenn infolgedessen auch muslimische Frauen feministisch mitgedacht werden sollen, dann ist es an der Zeit im Plural zu sprechen, und zwar über intersektionale Feminismen.

Intersektionalität meint die Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungsmerkmale, wie muslimisch, weiblich, mit Einwanderungsgeschichte oder ohne Einwanderungsgeschichte. Auch die Tatsache keine Einwanderungsgeschichte zu haben und kulturell in Deutschland beheimatet zu sein, führt zu Diskriminierung. Wir Konvertitinnen können unsere kulturelle Sozialisation nicht ablegen. Jede Kultur hat ihren Verhaltenskodex und Kommunikations- Code – sei es durch Gestik, Mimik, Sprache oder auch Verhalten und Auftreten. Die gesamte Erscheinung drückt sich in einem Habitus einer jeden Person aus. Unsere jeweilige Sozialisation hat unseren Habitus geprägt und egal, wie sehr wir rein äußerlich als muslimische Frauen wahrgenommen werden, unser Habitus verrät uns doch als Jemand, die in der deutschen Kultur beheimatet ist. Schließlich sind es Erfahrungen von Existenzbedingungen, die sich in Wahrnehmungs- und auch Handlungsdispositionen der Individuen festgelegt haben. Wir rufen sie in automatisierter Form ab, ohne es zu bemerken. Somit wirken diese verfestigten und inkorporierten Strukturen auch dann noch nach, wenn sich die Existenzbedingungen, wie bei einer Konvertierung grundlegend verändern. Genau dies ist unser Problem, denn das Gemeinschaftsgefühl wird über den ähnlichen Habitus begründet. Infolgedessen bedeutet dies, dass ähnliche Kulturen schnell ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln und Konvertitinnen sind in der Regel in nichtislamisch geprägten Kulturen sozialisiert worden. Dies bedeutet in der Praxis, dass viele Konvertitinnen sich weder in homogenen, muslimischen Gemeinschaften noch in der Mehrheitsgesellschaft verorten können und es ihnen an Zugehörigkeit fehlt. Wo können wir nun Gemeinschaft erleben, wenn Religiosität und Kultur hier zu Lande beinahe gar nicht gemeinsam verortet sind? Was ist mit all den Musliminnen in Deutschland, die sich islamisch-religiös verorten und gleichzeitig deutsch-kulturell? Wo gehören sie hin? Demnach ist es nachvollziehbar, dass es für Konvertitinnen besonders schwierig ist, soziale Zugehörigkeit in einer bestimmten Gruppe zu finden, aber genau dieser Umstand kann eine Chance für unsere Gesamtgesellschaft sein.

Seit über zehn Jahren bietet das Muslimische Familienbildungszentrum – MINA e.V. frauen- und mädchenzentrierte Familienberatung an. Als deutschsprachige Akteure der sozialen Arbeit erhalten wir viele Anfragen für kultur- und religionssensible Sozialberatung. Insbesondere die Arbeit in der Familienberatung zeigt das Dilemma, welchem Konvertitinnen ausgesetzt sind. Daher möchte ich die Problematik am Beispiel bikultureller Ehen darstellen: Als Soziologin mit den Schwerpunkten Familien- und Migrationssoziologie habe ich bereits im Studium erfahren, dass die Scheidungsraten bi-kultureller Ehen bedeutend höher sind als solche intra-kultureller Ehen. Dabei zeigen die Praxis und auch die Forschung, dass hier nicht die Konflikte der Paare im Mittelpunkt stehen, sondern die Erwartungen beider Elternseiten gegenüber ihren Kindern und Enkelkindern. Jede Kultur wünscht sich mit den Kindern eine soziale Reproduktion der eigenen Kultur – wenigstens in Ansätzen. Eine Mischung von zwei Kulturen, die als unvereinbar rassifiziert werden, führt zu Ängsten. Schließlich geht keiner eine Bindung ein, um diese aufzulösen.

Aus der Praxis kann ich bestätigen, dass die Herausforderungen bikultureller Ehen eher in den Erwartungen, die durch die Herkunftsfamilien der Paare an sie herangetragen werden, liegen und nicht in den Paaren an sich. Die Eltern des Brautpaars haben Erwartungen hinsichtlich der Sitten, Bräuche sowie Lebensstil und Erziehung der Kinder. Beide Großelternpaare haben den Wunsch ihre Traditionen gemeinsam mit den Enkelinnen und Enkeln zu leben und möchten verhindern, dass diese die Traditionen der jeweiligen anderen Kultur in Gänze übernehmen. Die bikulturellen Paare fühlen sich meist hin- und hergerissen. Sie möchten den Bedürfnissen der Älteren gerecht werden und fühlen sich zwischen den Kulturen zerrieben, da sie es nicht schaffen die Bedürfnisse beider Familien unter einen Hut zu bringen. Vorschläge von Nichtbetroffenen, wie Feiertage beider Kulturen zu feiern, ist meist für beide Elternteile keine Lösung. Die christlich geprägte Seite hat Angst vor einer Dominanz der islamischen Traditionen und argumentieren mit den vermeintlich westlich- liberalen Werten. Die islamische Seite entgegnet mit dem Verbot des Begehens christlich geprägter Feiertage. Beide Elternseiten wollen gerne ihren eigenen Eltern gerecht werden und am Leben der Familien teilhaben. Sie selbst können meist einen gemeinsamen Nenner finden, dies aber nicht umsetzten, denn in der muslimischen Gesellschaft spricht die Familie stets mit. Der Umgang mit kulturellen Traditionen und nichtmuslimischen Feiertagen wurde stets als besonders konfliktreich beschrieben. Insbesondere Weihnachten, Ostern und kulturelle Sitten, wie der Umgang mit der Schwiegerfamilie, stellte die Familien oftmals vor konfliktreichen Herausforderungen.

Die Paare finden meistens Wege mit diesen Herausforderungen umzugehen, jedoch wird der Druck den Familien und auch elterlichen Gemeinden gerecht zu werden zu groß. Es gibt Themen, die nach vielen Jahren immer noch nicht für die Paare gelöst sind, weil die Eltern immer noch nicht mit den Lösungen einverstanden sind. Des Weiteren sind die islamischen Gemeinden immer noch sehr homogen. Somit bestehen Sprachbarrieren und Konvertitinnen werden vom religiösen Leben ausgeschlossen. Muslimische Feiertage können nur begrenzt als Familie in Gemeinden gefeiert werden, da viele Gemeinden ihre Angebote nicht in deutscher Sprache ausrichten. Kinder bikultureller Ehen sprechen oftmals nicht mehr ausreichend türkisch, arabisch, bosnisch oder weitere Sprachen islamisch-geprägter Länder, so dass sie nicht an Unterrichte in Gemeinden teilnehmen können. Darüber hinaus gibt es kaum theologische Erfahrungen in Hinsicht der Lebenswelt europäischer Konvertitinnen. Es wird meistens davon ausgegangen, dass wenn insbesondere Frauen den Islam annehmen, dass sie dann auch die Kultur des Mannes annehmen. Im besten Fall sollen die Konvertitinnen die Herkunftssprache des Mannes lernen und auch die Sitten und Bräuche annehmen. Es ist sichtbar, dass Männer je nach Umgebung den eigenen Habitus verändern. Verhaltensweisen, die in deutsch- kulturellen Umgebungen in Ordnung sind, sind in anderen kulturellen Umgebungen nicht mehr in Ordnung. Es ist, als ob man zwei verschiedene Verhaltenskodexe lernen muss.

Jedoch sind es nicht die Diskriminierungserfahrungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft allein, die Konvertitinnen vor Herausforderungen stellen. Es ist die Tatsache, dass Konvertitinnen durch ihre Konvertierung eh sowieso schon massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind und zusätzlich auch in ihrer neuen religiösen Gemeinde nicht bedingungslos als einfache Musliminnen angenommen werden. Diese Zerrissenheit zeigt sich auch in den nächsten Generationen, denn die muslimischen Ehen werden kulturell immer reicher und auch immer mehr Musliminnen mit muslimischer Einwanderungsgeschichte fühlen sich in der deutschen Kultur beheimatet. Unsere Identitäten werden hybrider. Infolgedessen brauchen wir hybride Gemeinden, die Raum für Mehrsprachigkeit zulassen und Frauen, die sich gegenseitig stärken, anstelle zu schwächen. Frauenbewegungen, die alle Kulturen mitdenken und sich auf gemeinsame Werte und Bedürfnisse besinnen.


Nicole Erkan ist Soziologin und Islamologin. Aktuell arbeitet sie als Integrationsfachkraft bei AmuRa – Servicestelle zur Sensibilisierung für Antimuslimischen Rassismus und zur Stärkung intersektionaler Feminismen. Die Servicestelle ist in Trägerschaft des muslimischen Familienbildungszentrums – MINA e.V.. Der Verein ist eine von Frauen selbstbestimmte soziale Einrichtung.