„Geh ja von meiner Kette“, sagte sie in einem wunderbaren Singsang dem kleinen Lockenschopf, den sie stark in ihren Armen trug.

Das kleine Nachbarsmädchen, das sie hielt, war vielleicht 1 oder 2 Jahre alt. Sie fühlte sich sicher in dem Arm der älteren Dame, und so spielte das kleine Mädchen an der Kette mit dem Löwenanhänger, der das Sternzeichen der Dame symbolisierte.

„Tette, Tette“, plapperte das Mädchen nach… „Nein, Kette!“… „TETTE“ versuchte es das Mädchen erneut- und so war die Dame für dieses Mädchen von nun an ihre Tette.

Die Jahre vergingen, und der kleine Lockenschopf wuchs heran. Und mit ihr wuchs die Verbindung zu Tette. Sie hielt sie fest, als sie laufen lernte, als sie Fahrrad fahren lernte, als sie dem Ernst des Lebens entgegen trat- sie hielt sie, stärker als jeder Bund, als jede Kette. Sie ließ die Kette lockerer, wenn das Mädchen es brauchte und zog mit gütiger Sanftheit und bedachter Stärke etwas strammer, wenn es notwendig war. Sie waren Oma und Enkelin- obwohl von außen betrachtet Welten zwischen Ihnen lagen. Die Jahre vergingen- die Kette hielt.

Eines Tages begann die alte Dame zu vergessen. Erst war es nur, was sie zu Mittag gegessen hatte, dann dass sie bereits schon Butter in rauen Mengen gekauft hatte, als sie mit dem Mädchen im ersten Supermarkt war… immer mehr verschwand. Der Schleier in ihrem Kopf wurde immer dichter- doch die Kette hielt.
Bei allem was sie vergass wusste sie immer den Namen des kleinen Mädchens- wer das Mädchen war und was vor allem sie fürs Mädchen war- ihre Tette.

Doch eines Tages war der Blick leer. „Tette, wie gehts Dir?! Erkennst Du mich?“ „Du bist doch die…, eehhhm, meinst Du ich komm auf deinen Namen?“ Situationskomik und Improvisationstalent auf allen Seiten versuchten die Situation aufzulockern.
Das Mädchen gab sich sichtlich Mühe. Sie suchte nach der Hand, die sie immer so fest hielt, nach der Kette, die die beiden bildeten. Ihre Blicke trafen sich… doch Tettes Blick war leer. Die Krankheit hatte sie fest im Griff, die Demenz war nun allgegenwärtig. Sie zog mit grauem Dunst über alles, was da war und zerstörte das, was die beiden über Jahrzehnte aufgebaut hatten – ihre Kette.